Wie zwei französische Flieger aus der Schweizer Internierung flohen

Aus den Personalakten der französischen Luftwaffe:

 

Caporal Châtelain René, geboren am 24.01.1891 in Mortagne, Vosges, als Sohn des René Châtelain und der Emilie Rapp, wohnhaft in Remiremont, 3 Place de la Courtine. Er wurde 1911 in Epinal rekrutiert und ist im Oktober 1912 in die 2. Groupe d'Aviation in Lyon eingetreten. Im Zivilberuf war er Mechaniker und Elektriker, bei den Fliegertruppen war er Bordmechaniker bei Adjutant Madon.1

 

Adjutant Madon Georges, geboren am 28. Juli 1892 in Tunis, Tunesien, als Sohn des verstorbenen Pierre und der Baphotine Nauca, wohnhaft in Tunis, Tunesien. Er wurde 1911 rekrutiert und ist am 12. März 1912 in den aktiven Dienst eingetreten bei der Fliegertruppe. Er wurde ausgezeichnet mit der Medaille Militaire und dem Croix de Guerre. Die Adresse seiner Mutter, der Witwe Madon, war die rue du Marabout Nr. 3 in Tunis, Tunesien.2

 

Ein zweites Papier weist Georges Madon als Sergent aus und er soll am 28. Juli 1892 in Bizerte, Tunesien geboren worden sein. Er wurde 1911 in Tunis rekrutiert und ab März 1912 zum Piloten ausgebildet. Er kam am 10. August 1916 von Pau zur Division Nieuport (Flugzeugtyp Nieuport).2

 

Die Einheiten der französischen Fliegertruppen waren anscheinend nach den Flugzeugtypen benannt, die sie flogen. Georges Madon war in den folgenden Einheiten: BL30 (Blériot), MF218 (Farman), N38 (Nieuport), Spa38 (Spad XIII). Die letztgenannte Schwadron stand unter seinem Kommando.3

 

Vom September 1916 bis zum Oktober 1917 hatte er 17 bestätigte und 20 unbestätigte Abschüsse erzielt. Am Ende des Krieges gingen insgesamt 41 bestätigte und 64 unbestätigte Abschüsse auf sein Konto.3

 

Bevor jedoch seine Karriere als französisches Fliegerass richtig begann, machte er im Jahr 1915 einen unfreiwilligen Abstecher in die Schweiz. Im April 1915 kam er mit einem neuen Flugzeug des Typs Farman in dichtem Nebel vom eigentlichen Kurs, mit dem Ziel Elsass, ab und geriet in den Luftraum der Schweiz. Bei Porrentruy / Pruntrutt im Jura war er zur Notlandung gezwungen und wurde interniert.3


Im Online Archiv des Roten Kreuzes zum 1. Weltkrieg findet man die Mitteilung, die französischen Flieger, welche in Pruntrutt gelandet waren, seien in St. Gallen interniert worden. Es handele sich um Sergent Madon Georges, geboren 1892 und Caporal Chatelain René, geboren 1891. 


Wie man verschiedenen Berichten im Intelligenzblatt der Stadt Bern entnehmen kann, waren sie zunächst in Hospenthal im Kanton Uri untergebracht. Von dort gelang Madon die Flucht, zusammen mit seinem Kameraden Korporal Chatelain.4 Die Freiheit war jedoch nur von kurzer Dauer, denn offenbar wurden sie auf der anderen Seite des Furkapasses in Gletsch oder Fiesch wieder gefasst.5

 

Nun wurden die beiden nach Zürich in die Kaserne gebracht, wo sie beim Ausgang stets von einem Schweizer Unteroffizier begleitet bzw. bewacht wurden. Dadurch sollte eine neuerliche Flucht verhindert werden, doch es kam ganz anders, wie man in weiteren Berichten des Intelligenzblattes der Stadt Bern sowie der Gazette de Lausanne und dem Journal de Genève nachlesen kann. Ende Dezember 1915 verschwanden die beiden Franzosen bei einem Spaziergang mitsamt ihrem Bewacher, dem Gefreiten Wüest aus Zürich.5

 

Offenbar war es ihnen auch gelungen, ein Fahrzeug samt Chauffeur zu organisieren. Dieser fuhr die drei auf direktem Weg nach Ouchy bei Lausanne am Genfersee wo sie mit einem Boot nach Evian auf der französische Seite übersetzten. Die Flucht war zwar geglückt, doch der Chauffeur flog auf und wurde schon bald gefasst und über den genauen Ablauf der Flucht befragt. Schnell fand man heraus, welche Personen noch an der Organisation und Durchführung der Flucht beteiligt waren.6

 

Auch die beteiligten Zivilisten wurden vor das Militärgericht gestellt

Beide Fluchten hatten ein militärgerichtliches Nachspiel. Ende Juli 1916 wurde vor dem Militärgericht der 5. Division in Bellinzona ein Fall verhandelt, bei dem es um Dienstpflichtverletzung ging, die den beiden in Hospenthal internierten Franzosen Madon und Chatelain die Flucht ermöglichte. Die Angeklagten, der Korporal Ettore Ambrosetti und der Feldwebel Francesco Bernasconi von Lugano wurden jedoch wegen ungenügenden Beweisen freigesprochen.7

 

Am 17.03.1917 begann beim Territorialgericht 5a unter dem Vorsitz von Grossrichter Major Bindschedler der Prozess bezüglich der zweiten erfolgreichen Flucht.8 Angeklagt waren neben den beiden geflüchteten Franzosen und dem Gefreiten Wüest, die alle durch Abwesenheit glänzten, auch der Chauffeur namens Bülow, sowie das Ehepaar Charles Beck-Guidet und deren Bekannte Fräulein Raux, eine Modistin aus Lausanne. Charles Beck hatte einen grossen Teil der Flucht organisiert und auch die Zivilkleider bereitgestellt, Fräulein Raux hatte den Kontakt zum Bootsverleiher in Lausanne hergestellt.9

 

Madon Georges Felix wurde 1892 in Bizerte geboren und ist Sergeant und Flieger in der französischen Armee. Châtelain René wurde 1871* in Mortagne geboren und ist Korporal und Flieger in der französischen Armee. Wüest Albert wurde 1879 in Lupfig geboren und ist Traingefreiter im Bataillon 148, wohnhaft in Gênevillers. Der Reisende Beck-Guidet Charles wurde 1873 in Paris geboren, seine Ehefrau Beck-Guidet Berthe wurde 1883 in Boulogne geboren, ihr Aufenthalt ist unbekannt. Der Chauffeur Bülow Albert wurde 1878 in Zürich geboren und ist bereits zehnmal vorbestraft. Er befindet sich seit dem 28. Dezember 1915 in Haft. Die Modistin Raux Georgette wurde 1891 in Paris geboren und wurde am 7. Januar verhaftet.8

 

*Das Geburtsjahr 1871 stimmt nachweislich nicht, laut der Personalakte der französischen Luftwaffe wurde er 1891 geboren, wie bereits am Anfang dieser Abhandlung erwähnt.

 

Die beiden Franzosen Madon und Chatelain wurden angeklagt wegen Dienstverletzung, eventuell Insubordination, Meuterei, Anstiftung des Wüest zur Begünstigung einer kriegführenden Macht. Der Gefreite Wüest wurde angeklagt wegen fortgesetzter Dienstverletzung, eventuell fortgesetzter Insubordination, auf vorsätzliches durch Bestechung bewirktes Loslassen von Gefangenen, die er bewachen sollte, sowie auf qualifizierte Desertion und Begünstigung einer kriegführenden Macht. Das Ehepaar Beck, der Chauffeur Bülow und das Fräulein Raux wurden der Gehilfenschaft und Begünstigung der von Madon und Chatelain bzw. Wüest begangenen Delikte angeklagt.9

 

Der Auditor Major Schnabel beantragte folgende Strafen: Madon und Chatelain je ein Jahr Gefängnis und zehn Jahre Landesverweisung, Wüest zwei Jahre Zuchthaus und fünf Jahre Einstellung im Aktivbürgerrecht, Beck ein Jahr Gefängnis und fünf Jahre Landesverweisung, Frau Beck drei Monate Gefängnis und fünf Jahre Landesverweisung, Bülow sechs Monate Gefängnis, ohne Abzug der Untersuchungshaft von 88 Tagen, und zwei Jahre Einstellung im Aktivbürgerrecht, Fräulein Raux zwei Monate Gefängnis, die durch die Untersuchungshaft als verbüsst zu betrachten sind.9

 

Der Urteilsspruch im Prozess gegen die flüchtigen Flieger: Madon und Chatelain wurden schuldig erklärt der Anstiftung zu Insubordination und der Loslassung von Gefangenen. Sie wurden zu je 6 Monaten Gefängnis verurteilt. Wüest wurde wegen Insubordination, Loslassung von Gefangenen und Ausreissens zu 2 Jahren Zuchthaus verurteilt sowie zu fünf Jahren Einstellung im Aktivbürgerrecht. Beck wurde wegen Begünstigung einer kriegführenden Macht zu 5 Monaten Gefängnis verurteilt, das Verfahren gegen Frau Beck wurde eingestellt. Bülow wurde wegen Begünstigung einer kriegführenden Macht zu sechs Monaten Gefängnis verurtielt, abzüglich 58 Tage Untersuchungshaft sowie zwei Jahren Einstellung im Aktivbürgerrecht. Fräuleiin Raux wurde ebenfalls wegen Begünstigung einer kriegführenden Macht zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt, die durch die Untersuchungshaft als verbüsst zu betrachten sind.10

 

Fliegerass Madon kommt bei einem Gedenkflug in Bizerte ums Leben

Georges Madon überlebte den ganzen ersten Weltkrieg und wurde zu einem der berühmtesten Fliegerasse Frankreichs. Auch nach dem Krieg liess ihn die Fliegerei nicht los und er beteiligte sich an Kunstflügen wie auch an Rekordflügen. Dabei erlitt er mindestens zweimal eine Bruchlandung, wie man in mehreren Ausgaben der französischen Zeitung „L’homme libre“ von 1922 und 1923 erfährt.

 

Der eine Vorfall geschah am 24.09.1922 in Etampes, wo er für die Ausscheidung zum Coupe Deutsch im Departement Meurthe trainieren wollte. Er kam blutüberströmt aus dem Flugzeugwrack und wurde umgehend in ein Krankenhaus transportiert.11 Am 21.12.1922 wurde dann berichtet, dass Madon das Training wieder aufnehmen konnte. Den Coupe Deutsch hatte er inzwischen jedoch verpasst. Nun hatte er sich das Ziel gesetzt, den Geschwindigkeits-Rekord nach Frankreich zu holen und Nungesser zu schlagen.12

 

Am 27.05.1923 meldete die Zeitung „L’homme libre“ einen weiteren Zwischenfall, in den neben Capitaine Madon auch Lieutenant Picard involviert war. Die beiden waren unterwegs von Sizilien nach Tunesien. Als sie auf der Höhe der Insel Pandelaria (Pantelleria?) waren, stellten sie fest, dass das Benzin nicht ausreichen wird. Capitaine Madon gelang es auf der Insel notzulanden, doch das Flugzeug seines Kameraden Picard knallte mehrmals gegen die Felsen und ging in Flammen auf. Der Lieutenant Picard kam als menschliche Fackel aus dem brennenden Wrack und warf sich ins Meer. Zwei Inselbewohner zogen ihn aus dem Meer und brachten ihn in die zwei Kilometer entfernte Stadt wo er verarztet und gepflegt wurde.13 Picard überlebte mit schweren Verbrennungen, nach sechs Monaten Behandlung standen ihm noch mehrere Operationen bevor.14

 

Am 11.11.1924 flog Georges Madon zu Ehren von Roland Garros, eines anderen Fliegerasses aus dem ersten Weltkrieg, dessen Denkmal in Bizerte, der Heimatstadt von Madon, eingeweiht wurde. Bei einem Looping versagte der Motor von Madons Flugzeug, er stürzte ab und konnte gerade noch verhindern, mitten in der Menschenmenge zu landen. Sein Flugzeug zerschellte auf einer Terrasse etwa 15 Meter entfernt, wobei Madon ums Leben kam.15

 

Diese Mitteilung kann man in der französischen Zeitung „L’homme libre“ vom 12.11.1924 nachlesen. Sie wird ergänzt durch einen Bericht über Madons fliegerische Karriere. Neben seinen Einsätzen im ersten Weltkrieg sowie der Anzahl seiner Abschüsse und Auszeichnungen wird auch seine Notlandung und Internierung in der Schweiz erwähnt. Ebenso dass ihm zusammen mit seinem Mechaniker Chatelain die Flucht aus der Schweiz gelang und er 1916 nach Frankreich und in die Fliegertruppe zurückkehrte.15

 

Die Zeitung „L’homme libre“ berichtete am 13.11.1924 auch über die Aufbahrung und Beisetzung von Georges Madon in Tunesien. Seine Leiche wurde noch am Dienstag Abend von Bizerte nach Tunis verbracht, wo er in der Krypta der Kathedrale aufgebahrt wurde. Alle Offiziere und Unteroffiziere der Fliegertruppe erwiesen ihm die letzte Ehre. Georges Madon war offenbar nicht offiziell zu diesem Gedenkflug kommandiert worden, denn der Einsatz von Militärflugzeugen an der Einweihung des Denkmals war nicht geplant. Aber als Madon von dieser Zeremonie erfahren hatte, holte er

heimlich sein Flugzeug in Tunis und flog nach Bizerte, wo es dann zu dem Unglück kam.16 

1 und 2

Mémoire des Hommes - Datenbank personnels aeronautique militaire

http://www.memoiredeshommes.sga.defense.gouv.fr/de/arkotheque/client/mdh/personnels_aeronautique_militaire/index.php

 

http://en.wikipedia.org/wiki/Georges_Madon und http://fr.wikipedia.org/wiki/Georges_Madon

Siehe auch Journal de Genève, Ausgabe vom 07.04.1915

 

4 Intelligenzblatt für die Stadt Bern, Ausgabe vom Sonntag, 19.09.1915

Siehe auch: Gazette de Lausanne, Ausgabe vom 18.09.1915

 

5 Intelligenzblatt für die Stadt Bern, Ausgabe vom Donnerstag, 30.12.1915

Siehe auch: Gazette de Lausanne, Ausgaben vom 29.12. und 30.12.1915

Siehe auch : Journal de Genève, Ausgaben vom 29.12. und 30.12.1915

 

6 Intelligenzblatt für die Stadt Bern, Ausgabe vom Mittwoch, 05.01.1916

7 Intelligenzblatt für die Stadt Bern, Ausgabe vom Sonntag, 30.07.1916

Siehe auch: Gazette de Lausanne, Ausgabe vom 29.07.1916

 

8 Intelligenzblatt für die Stadt Bern, Ausgabe vom Samstag, 18.03.1916

Siehe auch: Gazette de Lausanne, Ausgabe vom 18.03.1916

Siehe auch: Journal de Genève, Ausgabe vom 18.03.1916

 

9 Intelligenzblatt für die Stadt Bern, Ausgabe vom Sonntag, 19.03.1916

Siehe auch: Gazette de Lausanne, Ausgabe vom 18.03.1916

Siehe auch: Journal de Genève, Ausgabe vom 18.03.1916

 

10 Intelligenzblatt für die Stadt Bern, Ausgabe vom Montag, 20.03.1916

Siehe auch: Gazette de Lausanne, Ausgabe vom 19.03.1916

 

4 bis 10

http://intelligenzblatt.unibe.ch/Default/Skins/BernA/Client.asp?Skin=BernA&AppName=2&AW=1403209109955

 

Gazette de Lausanne, Journal de Genève und andere Zeitungen:

http://www.bcu-lausanne.ch/livres-articles-video-audio/journaux-et-magazines/archives_presse/

 

11 Französische Zeitung „L’homme libre“, Ausgabe vom Montag 25.09.1922

http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k7595635x.r=Madon+Georges.langDE

 

12 Französische Zeitung „L’homme libre“, Ausgabe vom Donnerstag 21.12.1922

http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k7595722n.r=Madon+Georges.langDE

 

13 Französische Zeitung „L’homme libre“, Ausgabe vom Sonntag 27.05.1923

http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k7592873c.r=Madon+Georges.langDE

 

14 Französische Zeitung, „L’homme libre“, Ausgabe vom Montag 29.10.1923 http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k7596163t.r=Madon+Georges.langDE

 

15 Französische Zeitung „L’homme libre“, Ausgabe vom Mittwoch 12.11.1924 

http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k7599788n.r=Madon+Georges.langDE

 

16 Französische Zeitung, "L'homme libre", Ausgabe vom Donnerstag 13.11.1924

http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k75997892.r=Madon+Georges.langDE

 

 

Weitere Quellen zu Georges Madon, die Zeitschrift "L'Aérophile" ist bei gallica online.

 

L'Aérophile vom 01.07.1915: Madons Notlandung und Internierung in der Schweiz

http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6553362v/f16.item.r=Madon%20Georges

 

L'Aérophile vom 01.11.1915: Madons Internierung in der Schweiz mit Chatelain

http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6553366h/f16.image.r=Madon%20Georges

 

L'Aérophile vom 01.06.1916: Madons Notlandung und Flucht aus der Schweiz

http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6552667n/f10.image.r=Madon%20Georges

 

L'Aérophile vom 01.01.1917: Madons 3. und 4. Abschuss, sowie der 5. Abschuss

http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k65518819/f330.item.r=Madon%20Georges

http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k65518819/f423.image.r=Madon%20Georges

 

L'Aéorphile vom 01.01.1917: Madons 8. und 9. Abschuss (mit Foto von Madon)

http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k65518819/f263.image.r=Madon%20Georges

 

L'Aérophile vom 01.01.1919: Diverse französische Militärpiloten, die aus der 

Internierung in der Schweiz oder Deutschland fliehen konnten.

http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6551947m/f48.image.r=Madon%20Georges